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Ruth Ramstein lebte bereits seit mehreren Jahren in Möriken, einer kleinen Gemeinde in der Schweiz. Sie engagierte sich in der Gemeinschaft, war unter anderem Präsidentin der Kindergartenkommission und Mitglied der Schulpflege. Ihr beschauliches Leben als Hausfrau sollte sich rasch ändern, als ihre siebenjährige Tochter, die gerade in der örtlichen Schule angefangen hatte, nach kurzer Zeit ein immer seltsameres Verhalten an den Tag legte. Die Mutter spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, und sprach ihre Tochter darauf an. Plötzlich fing das kleine Mädchen zu weinen an und erzählte der schockierten Mutter über ihre Erlebnisse in der Schule.

Sie berichtete ihrer Mutter von einem Lehrer, der die Schüler beim Vorlesen auf den Schoß nahm und sie trotz Gegenwehr nicht mehr herunterließ. Er gab den Kindern sogenannte „Belohnungsküsse“ auf den Mund und suchte bei jeder Gelegenheit die körperliche Nähe der Mädchen. Die besorgte Mutter war alarmiert und teilte dem betroffenen Lehrer sofort mit, dass sein Verhalten inakzeptabel war. Der Lehrer reagierte und setzte die Tochter in die hinterste Reihe und beachtete sie nicht mehr, mit den anderen Kindern machte er aber weiter wie bisher. Ruth Ramstein ging von nun an häufiger zur Schule um dem Lehrer zu zeigen, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte. Hier ertappte sie ihn dabei, dass er an heißen Sommertagen oft nur mit einer knappen Badehose oder mit nacktem Oberkörper den Unterricht leitete. Aber die Eltern und die anderen Lehrer tolerierten sein Verhalten, weil der Lehrer überall sehr beliebt war und als lustiger und geselliger Mann geschätzt wurde. Als jedoch einige Zeit später bekannt wurde, dass der betroffene Lehrer zwei Schüler beim Klassenlager zu sich ins Bett genommen hatte, gab es nur eine Frau, die mutig genug war, hier endgültig Alarm zu schlagen.

Ruth Ramstein: „Mir ging es um den Schutz der Kinder“

Ruth Ramstein informierte das Präsidium der Schulpflege über die Vorfälle, von nun an sollte sich die Behörde darum kümmern. Gleichzeitig bat sie um Namensschutz für sich, denn sie fürchtete, dass ihre Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Aber da war es bereits zu spät. Hinter ihrem Rücken verbreiteten einige Mitglieder der Schulbehörde den Fall gezielt im Dorf mit der Nachricht, dass Frau Ramstein einen beliebten Lehrer abmontieren wollte. Und plötzlich geriet die Mutter selbst ins Kreuzfeuer der Kritik. Der betroffene Lehrer hielt eine private Elternversammlung ohne Ruth Ramstein ab und machte Stimmung für sich und gegen Ruth Ramstein. Aufgrund seiner Beliebtheit im Dorf und seinem generell fröhlichen Wesen brachte er bald alle Eltern und die Vertreter der Schulpflege auf seine Seite. Auch die gesamte Lehrerschaft stellte sich hinter den Beschuldigten, Ruth Ramstein hatte jetzt von keiner Seite mehr irgendwelche Unterstützung und man teilte ihr mit, dass sie als Schulpflegerin zurücktreten und das Schulareal in Zukunft meiden sollte.

Ruth Ramstein: „Im Nu war ich isoliert und von Feindseligkeit umgeben. Von Seiten der Lehrerschaft wehte mir ein eisiger Wind entgegen. Ich fühlte mich, als schlage eine Flutwelle über mir zusammen“

Die Schulbehörde ließ nach einer sehr oberflächlichen Untersuchung sämtliche Bedenken fallen und man beugte sich der Mehrheit, denn keiner wollte sich im Dorf unbeliebt machen. Der Lehrer wurde zusätzlich in höchsten Tönen gelobt für seine aufrichtige Herzlichkeit mit dem Umgang mit seinen Schülern. Es begann nun eine Hetzkampagne gegen die Mutter, ihre Familie war nun zur Zielscheibe im ganzen Dorf geworden. Sämtlicher Kontakt zur Familie Ramstein wurde abgebrochen, wer es nicht tat, machte sich sofort verdächtig und wurde zum Außenseiter abgestempelt. Ruth Ramstein trat gezwungenermaßen als Schulpflegerin zurück, sie war innerlich sehr aufgerieben und verletzt. Sie fühlte sich hilflos und im Stich gelassen, aber sie gab nicht auf, denn die Opfer waren noch immer die Kinder. Sie gab eine unabhängige Untersuchung in Auftrag um eine neutrale Einschätzung des Falles zu erhalten. Das Lehrerverhalten wurde als klarer sexueller Übergriff gewertet, was jedoch die Behörde nicht mehr interessierte. Die Anschuldigungen prallten wieder ab und man wollte von dem Fall nichts mehr hören.

Kurze Zeit später und wie aus heiterem Himmel kündigte der beschuldigte Lehrer plötzlich seine Stelle und verließ das Dorf, trotz stattlichem Haus und zahlreichen sozialen Kontakten im Dorf. Ruth Ramstein stellte sofort Nachforschungen an, aber überall wurde beharrlich zu dem Fall geschwiegen. Bei den Behörden, die sie seinerzeit als Rufmörderin beschimpft hatten, gab man sich nur ahnungslos, wie wenn man von nichts wusste. Schon wieder ließ man sie links liegen, aber Ruth Ramstein warnte sie vor dem Tag, an dem ein paar Möriker Mädchen alt genug sein würden, um selber zu erzählen, was geschah.

Zwei Jahre später sollte es endlich soweit sein. Drei ehemalige Schülerinnen packten aus und beschuldigten den Lehrer, jahrelang sexuelle Übergriffe begangen zu haben. Im Dorf hielt man aber immer noch zum Lehrer, es konnte einfach keiner glauben, denn er war ja ein echter Familienmensch gewesen. Die Behörden bekamen plötzlich Gedächtnislücken, als sie mit den Vorwürfen konfrontiert wurden, sollten sich die Warnungen von Ruth Ramstein tatsächlich bewahrheiten?

Gegen den Lehrer wurde ein Strafverfahren eingeleitet, zahlreiche junge Frauen meldeten sich und belasteten den Lehrer, der großteils geständig war, schwer. Der Lehrer wurde im Jahr 2002 wegen sexueller Nötigung und sexuellen Handlungen mit Kindern zu 3 ¼ Jahren Zuchthaus und zu einem fünfjährigen Berufsverbot verurteilt.

Ruth Ramstein stemmte sich im Alleingang gegen ein ganzes Dorf und bezahlte dies mit unglaublichen Anfeindungen. Durch ihren mutigen Schritt fanden aber später viele Opfer selber den Mut, gegen den Lehrer vorzugehen, und diesen aus dem Verkehr zu ziehen. Ruth Ramstein versuchte die Personen, die seinerzeit nichts gegen die Vorwürfe unternommen hatten, zur Verantwortung zu ziehen, aber ohne Erfolg. Die gleichen Menschen, die seinerzeit die Kinder im Stich gelassen hatten, sind noch heute großteils in ihren Positionen. Bis heute entschuldigte sich nur ein einziger Gemeindemann bei Ruth Ramstein für die schrecklichen Anfeindungen gegen sie. Kein einziger Lehrer und kein einziges Mitglied der Schulbehörde taten dies ihm gleich, genauso wie die meisten Dorfbewohner.

Ruth Ramstein zog mit ihrer Familie weg von Möriken. Für ihren außergewöhnlichem Mut und ihrer Courage wurde sie mit der Auszeichnung „Prix Courage“ geehrt.

Ruth Ramstein: „Die Verurteilung war für die Opfer insofern wichtig, dass die Justiz das Ausmaß erkannte und das entsprechende Urteil aussprach. Ich habe die traurige Bestätigung, dass sich mein anfänglich ungutes Gefühl dem Lehrer gegenüber um ein Vielfaches übertroffen hat und das ist für mich bis heute eine schreckliche Erfahrung“