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Anfang August 2012 war der 70-jährige Bergwanderer Manfred Walter in den Stubaier Alpen (Österreich) unterwegs. Er liebte die Berge und die unberührte Natur und machte bereits seit über vierzig Jahren diese Bergtouren, meistens alleine. Trotz seiner großen Erfahrung passierte ihm an diesem Tag aber ein folgenschwerer Unfall. Der geübte Bergwanderer durchquerte gerade auf über 3.000 Metern ein dünnes Schneebrett, plötzlich brach er jedoch ein und stürzte senkrecht nach unten. Manfred Walter fiel fast 20 Meter in eine Gletscherspalte und landete auf einem kleinen Eisvorsprung. Schlagartig war alles dunkel und für den Bergwanderer begann sofort ein Kampf um sein Überleben.

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Manfred Walter tastete mit den Stöcken seine Umgebung ab und versuchte sich zu bewegen, plötzlich rutschte er aber aus und stürzte bis zum Bauch in eiskaltes Wasser. Mit letzter Kraft rettete er sich wieder zurück auf den kleinen Schneevorsprung, wo er gerade einmal sitzen konnte. Nun traute er sich nicht mehr zu bewegen, denn ein nochmaliger Absturz hätte ihm zu viel Energie gekostet und hätte zusätzliche Erfrierungen zur Folge gehabt. Manfred Walter versuchte mit seinem Handy Notrufe abzugeben, aber wie in den meisten dieser Fälle konnte er kein Signal empfangen und der Akku war ebenfalls bald leer. Es gab so gut wie keine Hoffnung für den Verunglückten, denn er wusste, dass in den nächsten Tagen keiner nach ihm suchen würde, und er hatte auch nicht viel Proviant dabei.
Manfred Walter rammte seine Stöcke seitlich in das Eis um sich abzustützen, denn er hatte Angst, dass er wieder abrutschen könnte. Danach setzte er sich auf seinen Rucksack, um sich von unten warm zu halten. Statt der Haube, die er bei seinem Sturz verlor, setzte er sich eine Unterhose auf, um seinen Kopf zu wärmen. Er wickelte Teile seines Körpers mit einer Alufolie ein und legte beide Hände unter die Achseln, um sie vor der Kälte zu schützen. Außerdem atmete er immer wieder unter seine Kleidung, um sich zu wärmen. Dies waren die ersten wichtigsten Maßnahmen, um sich gegen die lebensgefährlichen Erfrierungen zu schützen. Zum Essen hatte er nur eine Tafel Schokolade zur Verfügung, welche er streng rationierte. Pro Tag nahm er sich vor, nur ein kleines Stück zu essen. Aber nun kam der schreckliche Durst, welcher Manfred Walter zu schaffen machte, und er hatte keinen Vorrat mehr.
Der Alpinist stellte aus diesem Grund seine leere Trinkflasche an einen bestimmten Punkt, wo Gletscherwasser von einem Eiszapfen heruntertropfte. So konnte er pro Tag die bescheidene Menge von etwa 100 Milliliter Wasser (ca. 0,1 Liter) sammeln, um seinen trockenen Mund ein wenig zu befeuchten. So saß er nun gefangen in dieser eisigen und kalten Gletscherspalte, mit dem Wissen, dass er vermutlich nie mehr lebend hier rauskommen würde. Zwischen 10 Uhr und 16 Uhr nahm er immer wieder seine ganze Kraft zusammen um nach Hilfe zu rufen, denn zu dieser Zeit konnte es sein, dass jemand vorbeikam, aber niemand reagierte auf seine Hilfeschreie. So vergingen die Tage und Manfred Walter hatte immer mehr gegen die frostige Temperatur, die ungefähr um den Gefrierpunkt lag, zu kämpfen. Langsam schwand sein Optimismus für eine Rettung, die Horrorvorstellung, dass man ihn vermutlich niemals mehr finden würde, stieg ständig weiter. Aber solange er am Leben war, gab es noch einen kleinen Hoffnungsschimmer für ihn. Er dachte an seine Familie und betete jeden Tag für ein Wiedersehen.
Manfred Walter hatte wahnsinnige Angst einzuschlafen. Er wusste, wenn er sich hinlegen würde und tief einschlafen würde, dass er im Jenseits wieder aufwachen würde. Es war eine unglaubliche psychische Folter und er verfiel immer mehr in einen Dämmerzustand und träumte vor sich hin. Eine kleine Unaufmerksamkeit und ein kleiner Sturz in das eiskalte Wasser unter ihm, und alle seine Qualen würden vorbei sein. Aber er wischte diese Gedanken sofort wieder weg und hielt mit seinen letzten Kräften weiter durch. Trotz seines hohen Alters hatte er einen unbeschreiblichen Überlebenswillen.
Kurz vor seinen letzten Atemzügen hörte er plötzlich Stimmen von oben, eine Wandergruppe hatte tatsächlich seine schwachen Hilferufe erhört. Manfred Walter hatte bereits sein Zeitgefühl verloren und er wusste auch nicht, ob noch rechtzeitig Hilfe für ihn kam. Irgendwann hörte er das Vibrieren eines Hubschraubers, die Rettung war wirklich gekommen. Der erschöpfte Alpinist bekam aufgrund seiner starken Erschöpfung von der Bergung aber nicht mehr viel mit, er wurde umgehend in das nächste Spital geflogen.
Manfred Walter überlebte mit einem Hüftbruch, mit Erfrierungen an Händen und Füßen und mit Schürfwunden. Er schaffte es trotz seines hohen Alters von 70 Jahren, diese unglaubliche körperliche und psychische Belastung ganze sechs Tage und Nächte zu überstehen. Er verschob dadurch die Grenzen der Medizin, denn bisher war es unvorstellbar, dass jemand so lange in einer eiskalten Gletscherspalte überleben konnte. Aber mit grenzenlosem Überlebenswillen und unglaublicher mentaler Stärke schaffte Manfred Walter tatsächlich das Wunder, in dieser Gletscherspalte zu überleben.

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