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Wir schreiben das Jahr 1989, die Zeichen stehen auf Umbruch. Sowjetische Truppen ziehen nach jahrelangem Krieg aus Afghanistan ab, im letzten Kräftemessen des Kalten Krieges fällt die Berliner Mauer. Und auch in China herrscht Unruhe. In Peking organisieren Studenten Kundgebungen und Protestzüge im Kampf für mehr Demokratie in ihrem Land. Schon bald formiert sich eine Volksbewegung gigantischen Ausmaßes, und immer mehr Leute aus allen Schichten der Bevölkerung schließen sich der Bewegung an. Sie spüren instinktiv, dass ein großer Umbruch in China möglich ist. Doch sie haben die Rechnung ohne die gewaltbereite Regierung in China gemacht.

Die kommunistische Führung muss handeln, will sie ihre Macht behalten. Sie erklärt den Ausnahmezustand und bringt ihre Streitkräfte in Stellung. Noch ist die Lage ruhig, überall sind vor allem junge Menschen, die umherlaufen, um an den Protesten teilzunehmen. Doch die Anspannung wächst und immer mehr Soldaten marschieren auf. Immer lauter werden die Lautsprecherwarnungen gegen die Demonstranten und lassen keinen Zweifel offen: Es wird etwas passieren. Und schon bald kommt der Befehl zur Räumung, und die Truppen der Regierung setzen sich in Bewegung. Als sich die Menschen mit Steinen zu wehren versuchen, eskaliert die Situation. Mit Maschinengewehren zielen die Soldaten wahllos in die Menschenmassen. An mehreren Plätzen entbrennt ein ungleicher Kampf, und Peking versinkt im Chaos. Menschen gehen zu Boden, Tote und Verletzte überall. Der Preis für die Aufrechterhaltung der alten Ordnung ist hoch, laut Schätzungen von humanitären Einrichtungen gibt es bis zu 3.000 Todesopfer und doppelt so viele verletzte Menschen. Die Staatsmacht hat mit voller Härte gegen den Kampf für mehr Freiheit zurückgeschlagen.


Am Morgen des 5. Juni 1989 ist der Widerstand gegen die Staatsarmee nach kurzer Zeit gebrochen. Gegen diese brutale Vorgehensweise haben die Menschen nicht den Funken einer Chance. In der Nähe des Platzes des himmlischen Friedens (Tian’anmen-Platz, Zentrum der Demonstrationsstätte), biegt eine Kolonne von Panzern auf den breiten Chang’an-Boulevard ein, vor allem um Macht zu demonstrieren. Die meisten Menschen sind bereits geflüchtet, man fürchtet auch die strengen Strafen der Regierung, die bis zur Todesstrafe reicht.

Plötzlich stellt sich ein Mann mitten auf die breite Straße. Er steht ganz alleine da, bekleidet mit schwarzer Hose und weißem Hemd. In beiden Händen hält er vermutlich Einkaufstüten. Die Menschen auf der Seite schreien, doch er bleibt aufrecht und regungslos stehen, und die Panzer rollen genau auf ihn zu. Ein Kampfpanzer ist alleine ca. 44 Tonnen schwer, und der arme Kerl hat vermutlich sein Todesurteil schon unterschrieben, denn es ist mehr als fraglich, ob eines dieser Ungetüme stehen bleiben würde. Plötzlich bleibt der erste Panzer der Kolonne nur wenige Meter vor dem schlanken Mann stehen. Dann will das Leitfahrzeug um ihn herumfahren. Doch der Mann springt ihm wieder in den Weg. Und wieder stehen sich die ungleichen Gegner bewegungslos gegenüber. Überall ist es plötzlich ganz still, und die Spannung steigt unaufhörlich. Es sieht alles aus wie ein Spiel. Doch es ist bitterer ernst, und das Leben des Mannes hängt an einem seidenen Faden. Was wird nun passieren?

Der unbekannte Mann springt plötzlich auf den ersten Panzer auf und ruft wütend der Besatzung etwas zu. Doch ohne Reaktion, weshalb er wieder abspringt und die Panzer weiter blockiert. Dann geht alles sehr schnell. Ein paar Männer von der Seite sprinten los und zerren den unerschrockenen Mann ohne Widerstand auf die Seite. Der Mann verschwindet in der Menge und taucht nie wieder auf. Sein weiteres Schicksal ist bis heute unbekannt. Verschiedene Quellen behaupten, er sei untergetaucht und lebe im Untergrund. Andere wiederum behaupten, er sei kurz nach dieser Aktion hingerichtet worden. Welches Szenario der Wahrheit entspricht, ist fraglich. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass er seine Courage nicht überlebt hat. Die chinesische Regierung schweigt bis heute beharrlich zu diesem Thema, kritische Fotos und Artikel zu diesem Thema stehen unter strenger Zensur.

Einige Fotos zu diesem Vorfall konnten von ausländischen Journalisten jedoch außer Landes geschmuggelt werden und gingen sofort um die Welt. Die Medien gaben ihm den Namen „Tank Man“ („Panzermann“) und wurde zum Symbol für die Demokratiebewegung auf der ganzen Welt. Durch seine mutige Tat, die keine fünf Minuten dauerte, veränderte dieser Mann die Welt. Vielerorts gingen damals die Menschen auf die Straßen, um für mehr Demokratie zu kämpfen. Den Mut dazu fanden sie durch „Tank Man“, der als einzelner Mann ganze 17 Kampfpanzer zum Stillstand gebracht hatte. Im April 1998 nahm das „Time Magazine“ den „Tank Man“ in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts auf.

Foto von Stuart Franklin