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Die Verlockung war einfach zu groß für den 21-jährigen Cédric Genoud, als er die unberührten Pulverschneehänge außerhalb der markierten Pisten entdeckte. Er war gerade in der Skiregion bei Evolène (Schweiz) bei herrlichem Sonnenschein unterwegs, und wollte das Skivergnügen voll auskosten. So verließ Cédric die abgesicherte Piste und fuhr den ungesicherten Abhang hinunter. Es war herrlich, mitten in den Bergen und bei herrlichen Schneeverhältnissen setzte Cédric völlig entspannt seine Schwünge in den Schnee. Bald würde er beim Abendessen mit seinen Freunden sitzen und den perfekten Tag gemütlich ausklingen lassen. Er war noch immer in Gedanken versunken als es plötzlich einen gewaltigen Krach machte.
Ein großes Schneebrett hatte sich gelöst, der Hang unter Cédric brach regelrecht unter ihm weg und er stürzte den Abhang hinunter. Er versuchte noch irgendwie, der Todesfalle zu entkommen, aber da war es bereits zu spät. Cédric wurde unter den mächtigen Schneemassen begraben und für ihn begannen nun die wichtigsten Sekunden seines Lebens. Noch bevor die Massen zum Stillstand kamen und ihn regelrecht einbetonieren würden, musste er die Zeit nutzen, um sich mit seinen Händen und Armen vor dem Gesicht so viel Platz wie möglich zum Atmen verschaffen. Gleichzeitig versuchte er, paddelnd wie ein Schwimmer, Richtung Oberfläche zu gelangen. Doch plötzlich wurde es ganz still um ihn. Die Lawine war anscheinend zum Stehen gekommen, und Cédrics Bewegungsradius war gleich null. Langsam wurde ihm bewusst, dass er soeben von einer Lawine verschüttet wurde, er war begraben unter einer 50 Zentimeter dicken Schneedecke und einbetoniert wie in einem Grab.

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Cédric konnte nur mehr seinen Kopf bewegen, zu seinem Glück konnte er sich einen kleinen Raum zum Atmen verschaffen. Dies war eine der wichtigsten Tatsachen, die seine Überlebenschancen ein wenig erhöhten. Eine andere wichtige Überlebensregel hatte er bereits beachtet, er hatte aufgehört zu schreien, denn die meisten Menschen sterben bei einer Lawine durch Ersticken, ein offener Mund wird sofort von den Schneemassen vollgestopft. Es war jetzt stockfinster. Cédric hatte Angst, dass sein Sauerstoff bald zu Ende gehen würde, denn der Hohlraum vor seinem Kopf war nicht groß. Da hörte er Raupenfahrzeuge, und er konnte sein Glück kaum fassen, er dachte dass er gleich gerettet werden würde. Aber die Fahrzeuggeräusche entfernten sich wieder. Es herrschte nur mehr gespenstige Stille, Totenstille. Cédric war lebendig begraben wie in einem Sarg, einbetoniert von Schneemassen, und er war ganz alleine. Es musste bereits die Nacht angebrochen sein, und Cédric war bewusst, dass in der Dunkelheit niemand mehr nach ihm suchen würde. Vielleicht war dies bereits sein Todesurteil.
Die Horrornacht dauerte bereits einige Stunden, Cédric hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Er dachte an seine Familie und an alle Leute, die ihn gerne hatten. Zum ersten Mal in seinem Leben fing er an zu beten. Doch plötzlich kam es ihm so vor, als würde er keine Luft mehr bekommen. Die Leiden hätten bald ein Ende, dachte er, und er würde hier qualvoll ersticken. Aber es war nur eine Einbildung von ihm, und Cédric fasste den Entschluss, bis zum letzten Atemzug alles für sein Überleben zu tun. Es war sehr kalt, und das Leben des jungen Mannes hing an einem seidenen Faden. Er war so müde, dass er jeden Moment einschlafen könnte. Aber wenn dies passieren sollte, wäre es sein sicherer Tod gewesen. Er zitterte am ganzen Körper und durch diese schnellen Bewegungen der Muskeln erzeugte der Körper die nötige Wärme, und half so, ein weiteres Abkühlen zu verhindern. Cédric kämpfte verbissen weiter, er steckte sich immer wieder Schnee in den Mund um nicht einzuschlafen und um einen Wassermangel vorzubeugen. Und immer wieder fragte er sich, warum er nur die abgesicherte Piste verlassen hatte. Er stellte sich vor, dass er vielleicht gar nicht mehr gefunden werden würde und er nur mehr als Skelett hier übrig bleiben würde. Und so verging die Zeit, schleichend und ohne Eile.
Cédric wurde am nächsten Morgen von einer Suchmannschaft gefunden und befreit. Er überlebte trotz 17 Stunden unter der Lawine mit nur einer leichten Unterkühlung. Sein Gesicht war blass, die Todesangst stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben. Diese Horrornacht war eine harte Lektion für sein Leben, welches ihm mit viel Glück noch nicht genommen wurde.
Die häufigste Todesursache bei Lawinenopfern ist das Ersticken. Nach 90 Minuten liegt die Überlebenschance bei nur noch etwa 20 Prozent. Cédric Genoud hatte nur überlebt, weil der kleine Hohlraum vor seinem Gesicht irgendwie mit Frischluft versorgt wurde, die ihn letztlich am Leben erhielt. Sein leichtsinniges Risiko hätte er beinahe mit seinem Leben bezahlt, heute bereut er seine Tat. Die Geschichte sollte uns zu denken geben, wenn wir das nächste Mal überlegen, außerhalb von gesicherten Pisten zu fahren.
Cédric Genoud: „Ich war mir der Risiken nicht bewusst. Die Schilder, die die Risikostufe 4 signalisierten, habe ich zwar gesehen, aber einfach ignoriert. Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe“