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Wir befinden uns im Jahr 1974, der 19-jährige dunkelhäutige James Bain führte ein unaufgeregtes Leben in Tampa, einer Millionenstadt in Florida (USA). Er ging in die Highschool, hatte Gelegenheitsjobs als Orangenpflücker und war allgemein sehr beliebt. In diesen Tagen passierte aber ein schreckliches Verbrechen, ein kleiner Junge wurde entführt und vergewaltigt. Kurz vor Mitternacht klingelte es an der Haustür und Janie, die Zwillingsschwester von James, öffnete die Tür. Plötzlich stürmten vier Polizisten herein und nahmen James mit, der damals noch nicht ahnte, dass es seine letzten Momente in Freiheit sein werden für eine sehr, sehr lange Zeit.
Auf der Wache wurde er von den Polizisten verhört, der nichtsahnende James beteuerte natürlich seine Unschuld, hatte sogar ein Alibi, da er zur Tatzeit bei einem Freund und später bei seiner Schwester war. Aufgrund ungenauer und verworrener Aussagen des Opfers wurde James aber angeklagt, obwohl ihm nicht einmal Blut oder Fingerabdrücke abgenommen wurden. Damals wurde im Zweifel sehr oft gegen den Angeklagten entschieden, und da James einziger Verdächtiger war und noch dazu eine dunkle Hautfarbe hatte, schaute es nicht gut für ihn aus. Zu dieser Zeit kam es immer wieder zu Rassenunruhen zwischen Schwarzen und Weißen, und ein weißer Richter fällte schließlich auch ein unfassbares Urteil gegen James: Lebenslang Gefängnis und keine vorzeitige Entlassung vor 25 Jahren. James stand unter Schock und konnte die Ereignisse noch gar nicht richtig begreifen, schließlich hatte er mit dem Verbrechen nichts zu tun.
James Bain: „Ich war fassungslos, aber überzeugt, dass sich der Irrtum schnell aufklären wird und ich bald wieder frei sein würde“
So kam James Bain im Alter von 19 Jahren ins Gefängnis, in eine Zelle mit elf anderen Schwerkriminellen. Aber jeden Tag hatte er die Hoffnung, dass er am nächsten Abend wieder mit seinen Freunden ausgehen und Spaß haben konnte, die Gerechtigkeit musste einfach siegen. Doch in den siebziger Jahren gab es noch keine DNS-Analysen, und man musste als Verurteilter seine Unschuld erst einmal beweisen. Hinzu kam dass es Schwarze im Rechtssystem der damaligen Zeit sehr schwer hatten, sich zu beweisen. Und so verging die Zeit, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Und James verlor immer mehr die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. Zudem war das Leben im Gefängnis alles andere als leicht und jeder Tag ein harter Kampf. Immer wieder wurde der hilflose James verprügelt, als angeblicher Kinderschänder hatte er zusätzlich keinen leichten Stand. Aber mit der Zeit fing er an, sich zu wehren, denn dies war die einzige Möglichkeit, zu überleben.
James Bain: „Anfangs dachte ich, ich müsste vielleicht sterben. Aber wer dort überleben will, muss sich wehren“
Aufgrund der ständigen Prügeleien hatte er immer wieder Disziplinar-Verfahren der Gefängnisleitung anhängig, die er einfach in Kauf nehmen musste. Eine vorzeitige Haftentlassung nach 25 Jahren? Praktisch ausgeschlossen. James Bain hatte sich damit abgefunden, er würde sein restliches Leben im Gefängnis verbringen und würde hier auch mit Sicherheit sterben. Die einzigen Lichtblicke in seinem Leben waren die Besuche der Eltern und Geschwister am Wochenende und sein Glaube an Gott. James betete jeden Tag und immer mehr klammerte er sich an seine Religion, um irgendwie sein Schicksal verstehen zu können. Und seine Gebete brauchten sehr lange, bis sie erhört wurden.
James Bain: „Ich habe an meine Familie gedacht, an Gott und auch an meine Freunde, die ich im Gefängnis kennengelernt habe. Das waren die drei wichtigsten Stützen. Sie haben mich am Leben gehalten“
Mehr als 30 Jahre waren inzwischen vergangen, und die Welt hatte sich rasant weiterentwickelt. In Florida wurde mittlerweile ein neues Gesetz beschlossen, dass alte Kriminalfälle mit Hilfe von DNS-Tests neu untersucht werden durften. Eine Organisation in Amerika, die sich um Aufklärung von Justizirrtümern kümmerte, hörte von dem Fall Bain. Das Verbrechen wurde untersucht und man hoffte, noch irgendwelche Beweisstücke aus der damaligen Zeit finden zu können. Und tatsächlich gab es noch die Unterhose des damals vergewaltigten Jungen, welche die Polizei noch immer aufbewahrt hatte. Ein unabhängiges Labor untersuchte die Unterhose und kam zu einem nicht überraschenden Ergebnis: Bain konnte nicht der Täter sein. Danach ging alles sehr schnell, in einer eilig einberufenen Sitzung unterschrieb ein Richter die Entlassungspapiere von James Bain und verabschiedete ihn mit den Worten: „Sie sind ein freier Mann. Gratulation.“
James Bain war mittlerweile ein ergrauter Mann mit 54 Jahren. Am 17. Dezember 2009 trat er zum ersten Mal seit 35 Jahren wieder als freier Mann in die gleißende Wintersonne Floridas. Unglaubliche Glücksgefühle durchströmten den hageren Mann, er rang nach Worten, konnte aber nicht wirklich welche finden. Seine Zwillingsschwester Janie, mit der James vor langer Zeit die letzten Augenblicke seiner Freiheit genoss, umarmte ihn mit Tränen in den Augen. Nach so langer Zeit hatte sie ihren geliebten Bruder wieder in den Armen. Als erstes gab man James ein Handy um seine Mutter anzurufen, aber er hatte keine Ahnung, wie es funktionierte. Wie konnte man mit einem Telefon nur ohne Kabel telefonieren? Und dies war nicht die einzige Sache, die James versäumt hatte. Als er eingesperrt wurde, war Richard Nixon noch Präsident der USA, Michael Jackson startete als Kind gerade seine Karriere mit den „Jackson Five“, Dinge wie Computer und Internet lagen noch in einer fernen Zukunft. Und generell hatte sich die Gesellschaft in der James Bain aufwuchs seit seiner Zeit im Gefängnis stark verändert.
James Bain erhielt für jedes Jahr, die er unschuldig in Haft verbracht hatte, 50.000 Dollar Entschädigung, also insgesamt 1,75 Millionen Dollar. Mit dem Geld will er sich nun um seine Familie kümmern und sich auf die Zukunft vorbereiten. Er will den High-School-Abschluss nachholen, den Führerschein machen und sich ein kleines Haus kaufen. Obwohl man James Bain das halbe Leben weggesperrt hatte, ist er nicht verbittert oder wütend. Er erfreut sich seiner Freiheit und genießt jede Minute in seinem neuen Leben. Die Möglichkeit einer Familiengründung will er so schnell wie möglich nachholen, denn immerhin musste er ganze 35 Jahre darauf warten, sich eine Frau suchen zu können.
Heute geht James Bain in die Schulen und erzählt seine berührende Geschichte. Er will den Kindern aufzeigen, wie viel er im Leben verpasst hat. Die Kinder sollen nicht den gleichen Fehler machen, sie sollen jeden Tag nutzen und die Freiheit zu schätzen wissen.
James Bain: „Man kann daran nichts ändern. Es macht keinen Sinn, mich zu ärgern. Seit das passiert ist, habe ich alles in Gottes Hand gelegt. Auch nach all den Jahren kann ich niemandem etwas vorwerfen“