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Sabriye Tenberken wurde am 19. September 1970 in Köln (Deutschland) geboren. Durch eine angeborene Netzhauterkrankung der Augen begann sie bereits ab ihrem neunten Lebensjahr langsam zu erblinden. Diese schleichende Erblindung war eine starke psychische Belastung für das kleine Mädchen, denn sie wusste, dass sie bald nichts mehr sehen würde auf der Welt. Das Leben wurde für Sabriye Tenberken immer schwieriger, denn mit der nachlassenden Sehkraft wurde sie immer mehr zum Außenseiter. Die Lehrer nahmen sie nicht mehr ernst und die anderen Kinder spielten ihr üble Streiche.

Sabriye Tenberken: „Kinder können sehr gemein sein: Ach, da kannst du ruhig lang laufen, da ist nichts. Und dann falle ich plötzlich die Treppe runter“

Im Alter von zwölf Jahren trat dann die traurige Gewissheit ein und das Mädchen wurde völlig blind. Sabriye Tenberken war vollkommen verstört und hatte schreckliche Angst, von nun an alleine zu sein. Sie konnte sich mit ihrem Schicksal nicht wirklich abfinden, erst als sie in eine Blindenschule kam, schöpfte sie wieder Hoffnung. Sie lernte neue Freunde kennen und in rasender Geschwindigkeit studierte sie die Brailleschrift (Blindenschrift) und war auch sportlich sehr aktiv. Sie war eine sehr gute Schülerin und schaffte problemlos ihren Abschluss, nun wollte sie aber weiterstudieren. Sie begann ein Studium im Rahmen der Zentral-Asien-Wissenschaften mit den Schwerpunkten Tibet und Mongolei. Da sich zuvor noch kein Blinder an diesen Studiengang gewagt hatte, musste Sabriye Tenberken eigene Methoden erfinden, um das Studium bewältigen zu können.


Im Alter von 22 Jahren entwickelte sie aus diesem Grund eine eigene tibetische Blindenschrift, die auf der Brailleschrift basierte. Es war die erste eigene Blindenschrift für Tibet, denn so etwas hatte es bis jetzt noch nicht gegeben. Um ihr Wissen noch zu vertiefen, reiste Sabriye Tenberken nach Tibet (Zentralasien), um dort die Lebensbedingungen blinder Menschen zu erforschen. Sie war jedoch erschüttert, wie mit blinden Menschen in dieser Gegend umgegangen wurde. Blinde Kinder wurden von ihren Eltern verstoßen oder wurden einfach an das Bett gefesselt. Es gab keine Einrichtung, die sich um blinde Menschen kümmerte, und so mussten die meisten Blinden, ausgestoßen von der Gesellschaft, ihr Leben in völliger Abgeschiedenheit und in Armut verbringen. Sabriye Tenberken konnte diese schlimmen Zustände kaum fassen und wollte etwas dagegen tun.

Sie wollte eine Blindenschulde in Tibet gründen, die sich der Alphabetisierung blinder Kinder widmen sollte. Doch sie fand kaum Unterstützung, denn wer wollte schon einer blinden Frau helfen, ein so großes Projekt umzusetzen? Aber Sabriye Tenberken ließ sich nicht unterkriegen und kämpfte verbissen um ihre Pläne. Sie begab sich auf schwierige Reisen in die entlegensten Dörfer, um Eltern zu überzeugen, ihr blindes Kind in ihre Obhut zu geben. Gegen alle Widerstände der Behörden ließ sie sich nicht einschüchtern, denn sie wollte einfach den blinden Menschen ein besseres Leben ermöglichen. Bald fand sie die ersten blinden Kinder für ihre Schule und so wurde 1998 tatsächlich das erste Blindenzentrum in Tibet gegründet. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Lebensgefährten Paul Kronenberg, der sie dabei tatkräftig unterstützte.

Neben der Blindenschrift wurden auch viele praktische Dinge vermittelt, wie man zum Beispiel mit einem Blindenstock umgeht, oder wie man sich als Blinder in einer Stadt orientieren kann. Da viele Kinder psychische Probleme hatten, wollte Sabriye Tenberken die Stärken der Kinder fördern, um sie wieder in die Gesellschaft integrieren zu können. Ein tibetischer Junge wollte zum Beispiel gerne ein Käser (Käsehersteller) werden, und so durfte er in Holland in die Lehre gehen. Nach seiner Rückkehr nach Tibet wurde er ein erfolgreicher Geschäftsmann für die Käseherstellung, obwohl er blind war. Aus diesem Grund wurde später auch eine eigene Ausbildungsfarm für Käserei in Tibet errichtet, um blinden Menschen eine Berufsausbildung zu ermöglichen.

Sabriye Tenberken: „Es ist gar nicht notwendig, die Welt blindengerecht zu machen. Es sei wichtiger, die Fähigkeiten der Blinden zu erkennen und zu stärken und sie so für die Welt vorzubereiten“

Die Blindenschule wuchs nun ständig weiter, Sabriye Tenberken bildete nun auch andere Lehrkräfte aus, die nun ebenfalls die Kinder unterrichten konnten. Sie kümmerte sich vor allem um die Kommunikation zu den Behörden und anderen internationalen Organisationen. Durch zahlreiche Medienauftritte sammelte sie notwendige Spenden, um die Schule finanzieren zu können und auch andere Projekte für blinde Menschen zu verwirklichen. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten plante sie bereits Programme für Blinde in Indien, und aus diesem Grund gründeten sie die internationale Hilfsorganisation „Braille Ohne Grenzen“ für Blinde in Entwicklungsländern. Von zentraler Bedeutung war die Vermittlung der Brailleschrift an blinde Menschen. Zusätzlich sollte für jene Sprachen, wo eine Blindenschrift noch nicht existierte, ein eigener Sprachcode entwickelt werden, so wie Sabriye Tenberken es seinerzeit für Tibet getan hatte.

Sabriye Tenberken schaffte es trotz ihrer Behinderung, die erste Blindenschule in Tibet zu gründen. Mit großer Willensstärke und Entschlossenheit überwand sie Hindernisse, an denen die meisten Menschen gescheitert wären. Und dies war auch ihre wichtigste Botschaft an alle blinden Menschen auf der Welt, denn wenn man kämpft und an sich glaubt, kann man alles im Leben erreichen. Sie hat bereits viele blinde Kinder von der absoluten Armut befreit und sie von Ausgestoßenen der Gesellschaft zu Menschen gemacht, die heute stolz ihre Familie ernähren können. Die Brailleschrift, die Sabriye Tenberken für Tibet entwickelt hatte, ist heute anerkannte und offizielle Blindenschrift in Tibet.

Sabriye Tenberken: „Aus der Ferne scheinen Probleme manchmal unlösbar. Und wenn man davorsteht, dann begreift man erst, hier ist eine Lücke, da kann ich durch“