Lesezeit: ca. 7 Minuten
Immaculée Ilibagiza wurde in Ruanda, einem kleinen und armen Staat in Ostafrika, geboren. Gemeinsam mit ihren Geschwistern hatte sie eine glückliche und wohlbehütete Kindheit, sie wurden immer unterstützt von ihren liebevollen Eltern. Sie besuchte die Schule und durfte später auf das College gehen, wo sie sehr erfolgreich war. Von ihren Eltern wurde sie immer so erzogen, dass jeder Mensch gleich viel wert war, egal welche Herkunft er war. Aber nicht alle Menschen teilten diese Ansicht, denn in Ruanda gab es zwei Hauptstämme, die mehrheitliche Gruppe der Hutu, und die Minderheit der Tutsi. Schon viele Jahre gab es Konflikte zwischen diesen beiden Volksgruppen, und durch diesen Hass gab es in beiden Lagern viele Extremisten. Es ging um Macht- und Besitzansprüche, immer wieder gab es Morde und blutige Kämpfe in beiden Lagern.

unter CC BY 2.0
Immaculée und ihre Familie gehörte zur Minderheit der Tutsi, obwohl es ihnen nicht wirklich wichtig war. Doch ständig riefen Hutu-Anhänger dazu auf, die „Tutsi-Kakerlaken“ zu eliminieren, und diese Feindschaft sollte am 06. April 1994 ihren traurigen Höhepunkt erreichen, als der Präsident des Landes bei einem Flugzeugabsturz, welches abgeschossen wurde, getötet wurde.
Immaculée Ilibagiza: „Plötzlich wurde alles zugemacht im Land. Uns wurde gesagt, dass nichts mehr getan werden dürfe, keine Arbeit, keine Bank, keine Märkte sollten öffnen“
Sofort wurden alle Grenzübergänge geschlossen, und keiner vom Volk der Tutsi konnte mehr fliehen, denn radikale Hutu-Anhänger gaben der Tutsi-Minderheit die Schuld für die Ermordung des Präsidenten, obwohl dies bis heute nie aufgeklärt werden konnte. Bald folgten Meldungen, wonach Hutu-Anhänger ganze Familien der Tutsi umbrachten, inklusive der Kinder. Die Menschen in der Heimatstadt von Immaculée bekamen es mit der Angst zu tun, denn sie hörten bereits von einem Killerkommando, welches auch zu ihnen unterwegs war. In einer waghalsigen Aktion schickten die Eltern die 22-jährige Immaculée im letzten Moment zu einem Hutu-Priester, wo sie sich verstecken konnte. Es sollte das letzte Mal sein, wo sie ihre Eltern lebend sehen sollte.
Immaculée Ilibagiza: „Es gab viele Pastoren und Priester, die Menschen versteckten. Es war wirklich eine Sache des persönlichen Glaubens an Gott. Es ging nicht mehr darum, zu welcher Gruppe man gehört oder dies und jenes“
Immaculée wurde sofort in einem kleinen 90 x 120 cm großen Badezimmer, verborgen hinter einem Kleiderschrank, versteckt. Gemeinsam mit sieben anderen Frauen und Kindern mussten sie nun auf engstem Raum in diesem winzigen Versteck bleiben, unter Todesangst. Immer wieder drangen Killer in das Haus des Geistlichen ein, um nach Opfern zu suchen und um sie zu töten. Immaculée betete zu Gott, dass sie nicht entdeckt wurden, und in ihrem Glauben fand sie den einzigen Halt in dieser schrecklichen Situation. Ständig hörte sie Geräusche von außen und hektische Schritte, es war ein Versteckspiel auf Leben und Tod. Doch was im gleichen Moment mit unschuldigen Menschen vom Tutsi-Stamm passierte, die sich nicht verstecken konnten, war unvorstellbar. Denn die zur Hutu zählenden Polizei, die Armee und auch weite Teile der Hutu-Zivilbevölkerung machten unerbittliche Jagd auf die Tutsi-Minderheit, um sie für immer auszulöschen.
Immaculée Ilibagiza: „Wir aßen dort, schliefen und waren still. Wir sahen einander an, kannten einander nicht einmal. Aber das Eigenartige ist, wenn man in Schwierigkeiten steckt, weiß man, du bist ein Mensch. Wir sind Menschen und lachen und weinen über dieselben Dinge. Und nur das zählt“
Überall wurden Straßenblockaden errichtet, wo aus den Flüchtlingsströmen Tutsi herausgesucht wurden und sofort erschossen wurden. Eine regelrechte Menschenjagd begann, mit schrecklichen Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Folterungen. Einigen Opfern wurden Körperteile nach und nach abgetrennt, um die Schmerzen zu erhöhen. Kinder wurden vor den Augen der Eltern misshandelt und brutal erschlagen. Große Menschenmengen wurden zusammengetrieben und in Gebäuden lebendig verbrannt, andere Leichen wurden einfach den Tieren zum Fraß vorgeworfen. Männer, Frauen und Kinder wurden wahllos mit Speeren, Macheten (lange Messer) und Handgranaten getötet. Erst als immer mehr Flüchtlinge das Land verließen, reagierten die internationalen Staaten auf diesen Völkermord, aber da war es bereits viel zu spät.
Während der dreimonatigen Dauer des Bürgerkrieges wurden fast eine Million Menschen abgeschlachtet. Radikale Anhänger der Hutu-Mehrheit töteten etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit. Die Zahl der vergewaltigten Mädchen und Frauen wurde auf bis zu 500.000 geschätzt, viele erkrankten danach an AIDS. Ein Großteil der Todesopfer wurde sofort in Massengräbern beerdigt, um Seuchen vorzubeugen. Die meisten Täter konnten danach gefasst und verurteilt werden, aber viele Verbrecher schafften auch die Flucht ins Ausland.
Als Immaculée nach drei Monaten endlich ihr Versteck verlassen konnte, fand sie in einem Flüchtlingslager Unterschlupf. Sie war stark abgemagert und hatte über 20 kg verloren, aber sie hatte überlebt. Bald darauf erfuhr sie jedoch, dass ihre gesamte Familie in Ruanda getötet wurde. Ihr sorgenfreies Leben, wie sie es vor dem Massaker geführt hatte, war nun für immer vorbei.
Immaculée Ilibagiza: „Am ersten Abend erfuhr ich, dass meine gesamte Familie ermordet worden war: meine Mutter, mein Vater, meine beiden Brüder, mein Großvater, meine Großmutter, Onkel, Tanten, Nachbarn, Freunde und Klassenkameraden. Es war wie das Ende der Welt“
Immaculée konnte diese ganze Tragödie nicht fassen, nur der Glaube an Gott half ihr, dieses entsetzliche Schicksal irgendwie zu ertragen. Einige Jahre später verließ sie das Land, wanderte in die USA aus und wurde Mutter von drei Kindern. Sie arbeitet heute bei der UNO (Vereinte Nationen) in New York im Rahmen einer Entwicklungshilfe für ihr Heimatland Ruanda.

unter CC BY 2.0
Die Rachegefühle gegen die Mörder ihrer Familie und dem furchtbaren Völkermord konnte sie tatsächlich überwinden, da sie lernte, zu vergeben. Denn sie verstand, dass viele Täter nur von Hass geblendet waren und nicht wussten, dass ihr Handeln falsch war und es nun keinem weiterhalf, wenn sie nur auf Rache aus war. Sie begriff, dass sie niemals glücklich werden würde und in die Zukunft blicken konnte, wenn sie mit dem Trauma nicht abschließen konnte. Und so besuchte sie sogar den Mörder ihrer Mutter im Gefängnis, um ihm zu vergeben und ihre Feindschaft zu begraben.
Immaculée Ilibagiza: „Das Großartigste, was ich dabei erlebte, war, wie die Bitterkeit, die ich immer empfand, und der Zorn wie eine große Last von mir fiel. Das größte Wunder war das der Vergebung“
Immaculée Ilibagiza erlebte Momente im Leben, die kaum vorstellbar sind. Trotz des blutigen Massakers und der Ermordung ihrer geliebten Familie schaffte sie es, den Mördern zu vergeben. Sie gründete die „Left to Tell Foundation“, die wohltätige Projekte in ganz Afrika unterstützt. Sie schrieb Bücher, wie sie den Völkermord in Ruanda überlebte, und wie sie es schaffte, wieder ein normales Leben führen zu können. Immaculée Ilibagiza hält auf der ganzen Welt Reden über den Massenmord und ihre Einstellung zur Vergebung, damit der Hass zwischen den Menschen weniger wird. Denn wenn diese mutige Frau die Hoffnung nicht aufgibt und vergeben kann, dann kann jeder Mensch auf der Welt vergeben. 2007 erhielt sie dafür den „Mahatma-Gandhi-Versöhnungs- und Friedenspreis“.
Immaculée Ilibagiza: „Ich habe verstanden, was es heißt, dankbar zu sein. Dankbar zu sein für die Sonne, für den Mond, den Wind. Mir wurde klar, wie viel wir oft haben und wir ignorieren es einfach. Heute sage ich jedem, egal was sie durchmachen, es gibt immer Liebe und Hoffnung“